Thursday, November 25, 2010

Tolstoi - Familienglück

Zum Tolstoitodestag eine lange Erzählung. Eine sehr junge Frau liebt einen nicht mehr ganz jungen Mann. Sie heiraten und sind glücklich. Aber dann wird ihr das Landleben zu langweilig und der Mann lässt sie am giftigen Gesellschaftsleben nippen. Jetzt ziehen sie in die Stadt, gehen auf Partys und so weiter. Darüber verfliegt dann alles, Liebe und Glück. Aber nach dem die Frau ihre Erfahrungen gemacht hat, kehrt sie zu ihm zurück und beide finden ein reifes Glück. Oder so.

Sehr schöne Stimmungsbilder, Präzision der Beziehung und ihrer Entwicklung. Am Ende dann alles doch etwas vom Moralismus verdorben.

Obwohl er sicher recht hat. Aber Rechthaber nerven auch immer ein wenig.

Saturday, November 13, 2010

Benjamin Kunkel - Unentschlossen

Benjamin Kunkel also. Unentschlossen. Der Titel des Romans ist schon mal sehr ansprechend. Habe ihn in einem Rutsch durchgelesen.

Es ist jedenfalls wieder einer dieser amerikanischen Romane, die verdammt gut geschrieben sind. Das gibt es hier gar nicht, diesen lockeren Ton, der dennoch so viele Bilder im Kopf entsehen lässt und gleichzeitig auf einer Handlung basiert, die "straight" zur Sache kommt.
Dieses "Staight"-Leseerlebnis ist haargenau das selbe, das ich schon damals als Student hatte, als ich noch keinen Fernseher hatte und die Bücher danach auswählte, was mir am Abend die bestmögliche Unterhaltung liefern würde. Die Highlights damals waren so weit ich mich erinnere: Der Ghostwriter von P. Roth und Rabbit in Ruhe von J. Updike. Ja und natürlich Nabokovs Ada und Lolita, obwohl das irgendwie eine andere, europäische Kategorie ist.

Unentschlossen also. Der Titel ist Programm: Dwight, ein Endzwanziger, Philosophie-Absolvent, verliert seinen Job im Technical-Support einer Pharma-Firma und versucht daraufhin, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Sein Problem: Er leidet an chronischer Unentschlossenheit. Dagegen nimmt er ein Medikament, das sich am Ende freilich als Plazebo erweist (solche Pillen sind in allen Romanen immer Plazebos). Wichtiger aber ist, dass er eine Reise nach Südamerika macht, um seine Jugendliebe Natascha zu treffen. Diese Reise verändert ihn von Grund auf. Statt Natascha erwartet ihn eine andere Frau, mit der er einen irren Tripp durch den Dschungel Ecuadors macht. Nach einigem hin und her verlieben sie sich ineinander. Der Roman endet damit, dass er sich zum demokratischen Sozialismus bekennt und in Bolivien gegen die von der USA gestützen Militärdiktatur arbeitet.

Das ist die Handlung. Sie ist es aber noch lange nicht, die das Buch zu einem lesenwerten Buch macht.

Die Gründe, die für die Lektüre sprechen, liegen auf anderen Ebenen: der der Sprache und der der Hauptgestalten.

Die Sprache des Buches ist es, was dem Leser auf jeder Seite Genuss verschafft. Alles ist unglaublich pointiert und gekonnt, die Metaphern frisch.
Ich schlage wahllos irgendeine Seite auf.
Und doch verkörperte die Beachtung, die wir Mister schenkten, eine Eltern-Kind-Basis, die vermuten ließ, dass in unserer Familie unter der Hand große Mengen erstklassiger Liebesgefühle kursierten, wenn wir so mit unserem Hund umgingen - so lieb er auch war. Unsere Gefühle für Mister waren wohl irgendwie der Maßstab für unsere Herzen.
Mister, das ist der Hund. Ganz locker werden hier aus etwas Gegenständlichem (ok, es ist ein lebendiger Hund), komplexe emotionale Verhältnisse verdichtet.

Der andere Grund für das Buch liegt wie gesagt in den Figuren, namentlich in der Hauptfigur und seiner Freundin Brigid. Sie haben ihre Schwächen und Eigenarten und sind mit Gefühl für Details gestaltet (Dwights Klamotten, sein schüchternes Dandytum etc.)

Alles in allem eine sehr lauschenswerte neue Erzählstimme aus Amerika.



Saturday, November 06, 2010

Norbert Gstrein - Die ganze Wahrheit

Irgendwie unangenehmer Schlüsselroman über ein Literaturbetriebsmonster.

Friday, November 05, 2010

Das böse Mädchen - Mario Vargas Llosa

Nobelpreisträgerbuch, das in Reichweite lag, hübsche Idee: Das böse Mädchen taucht in jeder Lebensepoche auf, beschert Glück und Unglück und stirbt am Ende in seinen Armen.

Verwandlungen, Lebensleitmotiv.

Spitzbuben - William Faulkner


Eine dieser schönen Geschichten, in denen ein Junge und ein paar andere schräge Gestalten sich auf unerlaubte Pfade machen: Sie nehmen sich Großvaters Auto und starten damit eine Odysee durch die Südstaaten. Die Zutaten dieses famosen Abenteuergerichts: Ein Bordell in Memphis, ein Rennpferd, eine Wette, ein gestohlenes Auto, fiese Scheriffs, schlitzohrige Ex-Sklaven usw. Dabei geht es - etwas zu deutlich vielleicht - um die Mannwerdung des Erzählers, der hier erstmals die feine Linie zwischen Ordnung und Chaos übertritt.

Für mich eines der besten Faulkner Bücher in der kleinen Reihe, die ich gerade durch-lesen habe:
  • Es ist eine von diesen schönen Tom Sawyer und Huckelberry Finn-Geschichten, die man fast immer gerne liest.
  • Es gibt sehr viele sehr schöne Beispiele von Menschlichkeit in dem Buch: Lucius zum Beispiel, der Pferdespezialist, der auf der gesellschaftlichen Rangleiter ganz unten steht, sich aber durch seine Kenntnisse Anerkennung von ganz oben erringt.
  • Die Sprache Faulkners ist trotz der Leichtigkeit des Stoffes von diesem altersweisen Moralismus geprägt, der bei anderen sehr übel sein kann, bei Faulkner aber immer glaubwürdig und echt klingt.
  • Es ist Faulkners letztes Buch. Und letzte Bücher sind immer irgendwie etwas Besonderes.

Übrigens: Das Buch steht schon seit mindestens zehn Jahren in meinem Regal. Habe mehrere Anläufe gebraucht. Scheint so, dass auch im Faulkner-Leser eine Struktur heranreifen muss, um ihn besser zu fassen.

Der Nachsommer - Adalbert Stifter

Höre eine großartige Lesung von Joachim Schmidt, der das ganz ruhig und klar liest und man sich angenehm getragen fühlt auf dieser Donau von einem epischen Werk.

Das darin nichts aufregendes passiert, das ist seltsamer Weise das interessante. Nach und nach merkt man aber doch, dass sich klitzkleine Friktionen einstellen. Ein zu langer Blick auf in ein, man muss wohl Antlitz sagen, eine unerklärliche Ruhelosigkeit, nicht mehr.


Manchmal hört es sich für den heutigen Leser wie eine Parodie an.

Bei manchen Büchern wünscht man sich ja fast (insgeheim), dass mal nichts Dramatisches geschieht. Verzicht auf den immer irgendwie angestrengten Plot. Ideal des ereignislosen Romans. Hier wird das verwirklicht.

Der Stil ist natürlich großartig, auch wenn heutige Schreibschulen einiges einzuwenden hätten. Aber es wirkt, es atmet, selbst wenn es reinster Kanzleienstil ist.

Ein Lektor würde heute anfangen zu kürzen: die Mitteilung, dass der Held beim nächsten Besuch das selbe Zimmer bezieht, das ebenso reinlich ist, wie beim ersten Mal; dass sie, nachdem sie zusammen gemalt haben, das Gerät dazu wieder brav aufräumen etc. Dann aber würde er merken, dass er damit das vielleicht Entscheidende aus dem Gewebe entfernt und das mit der Vermittlung von Zeit zu tun hat: Die Schönheit des Flusses ist die Breite seines Fließens.

Einige Textstellen, hier schreibt er sehr schön und geradezu weihevoll über "die Dichter":

Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern...

»Ich habe diese Bücher gesammelt«, sagte er, »nicht als ob ich sie alle verstände; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd; aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter, wenn sie es im rechten Sinne sind, zu den größten Wohltätern der Menschheit zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung, das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Träger des Gedankens, wie etwa die Luft den Klang an unser Ohr führt. Die Dichtkunst ist daher die reinste und höchste unter den Künsten. Da ich nun meine, daß es so ist, wie ich sage, so habe ich die Männer, welche die Stimme der Zeiten als große in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht verstand, dazu getan, wenn ich nur wußte, daß sie in der Geschichte ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn ich von einem Fachmanne das Zeugnis hatte, daß ich in dem Buche den Dichter besitze, den ich meine. Sie mögen unverstanden hier stehen oder es man wohl einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht und liest. Ich habe wohl auch solche Bücher hieher gestellt, die mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst festzustellen sein. In diesen Büchern habe ich viel Glück gefunden und in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzücken aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwärmerei und mit Sehnsucht in dem Busen trägt, so ist es doch fast stets mehr die Wärme des eigenen Gefühles, die sie empfindet, als daß sie die fremde Weisheit und Größe in ein besonnenes, betrachtendes, abwägendes Herz aufnehmen könnte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit der Dichtung mag euch fördern und euer Herz jedem künftigen Großen öffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem Glanze färbt, so wie es eine Tatsache ist, daß die innige, wahre und treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt als die lodernde Leidenschaft der jungen, schönen, schimmernden Braut. Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das Abgängige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt.

Natürlich gibt es die typische Einschränkung für die Jugend:

"Daher kömmt die Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine Wiederspieglung der Jugendblüte sind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen, wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der Gegenliebe, oder die Träume künftiger Taten und künftiger Größe, der Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel seiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der sie in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der grauen Wimper mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Träne hängen als der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des Jünglings springt und keine Spur hinterläßt.

Dann geht es um das "reife" Lesen:

"Ich lese jetzt selten mehr die größten Geister im Zusammenhange - mit kleineren tue ich es wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind -, aber ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit großen Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhängen, als wären sie von meinen eigenen Rosen geflochten."

Die Dichter stehen ihm auch über den Philosophen:

"Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muß ich euch sagen, was ihr wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt, daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen und eigentümlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne gegebener Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar widerwärtig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbüchern, am wenigsten aus den neuen - jetzt lese ich gar keine mehr - gelernt, sondern ich habe sie aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die gegenständlichste Dichtung vorkömmt.«

Der Gastfreund ist natürlich ein richtig satter Vielleser:

"Als ich meinen Gastfreund so reden hörte, erinnerte ich mich, daß ich ihn in der Tat viel lesen gesehen habe. Oft war er mit einem Buche unter einem schattigen Baume gesessen oder in rauherer Jahreszeit auf einer sonnigen Bank, oft hatte er sich mit einem auf einen Spaziergang begeben, er ist sehr häufig in dem Lesezimmer gewesen, und er trug Bücher in seine Arbeitsstube. Als wir die letzte Fahrt in den Sternenhof gemacht hatten, hatte er Bücher mitgenommen, und ich glaube von Gustav gehört zu haben, daß er auf jede Reise Bücher einpacke."

Kurios: Der Gastfreund berät den Erzähler. Er sei zu festgelegt, solle sich noch breiter aufstellen. Sprich: noch
mehr Muse, neue Dinge auf sich zu kommen lassen. Dabei kann man sich beim besten Willen keinen breiteren Bildungswanderer vorstellen. Aber - und da ist Stifter doch seht exakt, präziser als der Leser - im Folgenden setzt der Erzähler mit der ihm eigenen Konsequenz den Rat in die Tat um und jetzt dämmert auch dem heutigen Leser, was gemeint ist. Denn ihm fehlt Welterfahrung. Und so schließt er sich in der Stadt allerlei Kreisen und Gesellschaften an. Sehr berechnend. Es fröstelt einen manchmal bei diesem Ideal.

Nun also. Eine reine Welt, konfliktfrei bis zur Grenze der Sterilität. Es ist noch einmal so ein Fall, bei dem einer alles in sein Buch gesteckt hat.